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Krankhafter Stress

Schmerzen? So hilft die Psychosomatik!

Stress, Übergenauigkeit, Perfektionismus können Schmerzen verursachen. Statt Schmerzmittel bringen psychosomatische Therapien und die Änderung von Verhaltensmustern die Schmerzen zum Verschwinden.

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Schmerzen Mann

Chronische Schmerzen sind oft stressbedingt. Das Ändern von Verhaltensmustern kann helfen.

Getty Images

Viele Menschen haben chronische Schmerzen, wissen nicht, woher sie kommen, und rennen verzweifelt von einem Arzt zum anderen. Sie versuchen alles Mögliche, von der Schulmedizin über Akupunktur bis zur Behandlung mit Blutegeln.

Dass die Schmerzen stressbedingt sein können, daran denkt niemand – oder will niemand denken. Denn wer will schon unter Stress leiden, und schon gar nicht körperlich. Verletzlich zu sein und sogar psychisch auffällig – dieses Stigma will oder kann sich niemand leisten.

Medikamente zeigen keine Wirkung

Tatsache ist: Bei stressbedingten Schmerzen haben Schmerzmedikamente keine Wirkung, da sie die zugrunde liegenden Mechanismen nicht beeinflussen können. Ansetzen muss man hier an einem ganz anderen Ort. «Im Mittelpunkt steht eine spezifische Form von Psychotherapie, bei der am besten Einzel- und Gruppen-Psychotherapie kombiniert werden», sagt Prof. Ulrich Egle, Fachexperte für Psychosomatik am Sanatorium Kirchberg. «Die Behandlung zielt darauf ab, früh geprägte Verhaltensmuster ins Bewusstsein zu holen und zu verändern. Solche Verhaltensmuster sind Folge ungünstiger Entwicklungsbedingungen in der Kindheit und führen zu hausgemachtem Stress.»

Perfektionismus als Ursache

Aufgrund fehlender Aufmerksamkeit und Zuwendung in der Kindheit komme es zu überzogener Leistungsorientierung sowie perfektionistischem Denken und Handeln, um das Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Als Folge emotionaler Zurückweisung in der Kindheit wollten viele stressbedingt Schmerzkranke alles alleine schaffen und können sich keine Unterstützung bei anderen Menschen holen, da diese Personen in der Kindheit als unverlässlich erlebt wurden.

Musiktherapie

Prof. Egle: «Diese Selbstüberforderung beeinträchtigt den Blick nach innen. Selbstfürsorge und Reflexion über eigene Bedürfnisse müssen im Rahmen der Therapie deshalb erst einmal erlernt beziehungsweise reaktiviert werden.

Der Zugang zu den eigenen Gefühlen kann auch durch Musiktherapie gefördert werden. Ergänzend bieten sich eine richtig dosierte Sport- und Bewegungstherapie sowie Entspannungsverfahren an. Sind muskuläre Verspannungen Teil des Schmerzes, sind physiotherapeutische Übungen erforderlich.»

Ärger nicht schlucken

Wichtig sei zudem, Stressbewältigungsstrategien therapeutisch anzugehen, die nach belastenden Alltagssituationen dazu führen, dass die Gedanken anhaltend kreisen und eine Distanzierung schwerfällt. «Bei Alltagskonflikten neigen viele Schmerzpatienten dazu, ihren Ärger zu schlucken oder die Schuld bei sich selbst zu suchen. Aufgrund des schlechten Selbstwertgefühls fällt ihnen die Wahrung eigener Interessen schwer», erklärt der Psychosomatiker. «Das löst oft Schlafstörungen aus beziehungsweise verstärkt sie. Diese mit Medikamenten zu behandeln, wäre sehr unklug.

Viel geeigneter sind dagegen spezifisches Verhaltenstraining sowie Abbau eines körperlichen Schonverhaltens.» Die Bausteine dieses Therapieprogramms werden unter stationären Bedingungen individuell zusammengestellt. Durch die motivierte Mitarbeit des Patienten und die Veränderung bisheriger Verhaltensmuster ist es möglich, bei stressbedingten Schmerzzuständen schmerzfrei zu werden. Zur Umsetzung der neuen Verhaltensstrategien im Umgang mit sich und anderen ist meist eine ambulante Weiterbehandlung sinnvoll.

Fibromyalgie ausschliessen

Stressursachen spielen nicht nur bei chronischen Kopf-, Gesichts- und Rückenschmerzen, sondern auch bei Patienten mit Ganzkörperschmerzen ohne medizinischen Befund eine Rolle, die von Rheumatologen als Fibromyalgie-Syndrom bezeichnet werden. Auch bei dieser Form von Schmerzen haben Schmerzmittel keine Wirkung.

Wichtig ist ein Sport- und Bewegungsprogramm, das drei- bis viermal pro Woche über 20 bis 30 Minuten durchgeführt wird und bei dem der Puls nicht über 120 Schläge pro Minute ansteigt. Ging aufgrund der Angst vor Schmerzen ein längeres Schonverhalten voraus, kann man auch mit Aquafit beginnen. Mit dem Training können schmerzverursachende Botenstoffe gehemmt werden.

Angst spielt auch eine Rolle

«Bei einem Teil der Fibromyalgie-Patienten besteht eine Angsterkrankung, die durch spezifisches Training in Verbindung mit Entspannung behandelt wird. Bei anderen Patienten spielt als innerer Stressor die Neigung zu Perfektionismus eine grosse Rolle. Hier fokussieren die psychotherapeutischen Massnahmen auf eine Verbesserung der Selbstwahrnehmung und des Selbstwertgefühls mit gleichzeitiger Reduktion eines überzogenen Leistungsstrebens», führt Prof. Egle aus. Voraussetzung sei eine therapeutische Beziehung, in der die Patienten – oft erstmals in ihrem Leben – Verständnis und Fürsorge erleben, ohne dass Leistungen eine Bedingung sind.

Auf diese Weise könne die Angst vor Zurückweisung und Enttäuschung abgebaut und Vertrauen in andere Menschen aufgebaut werden. So verändert sich nach und nach auch das Verhalten in den Beziehungen. Erforderlich ist dazu ein selbstbewusstes Auftreten auf Augenhöhe – etwas, das zunächst ungewohnt sein kann. Durch Paargespräche wird dieser Prozess im Rahmen der Therapie unterstützt.

Hilfe vom Psychotherapeuten

Ein solches Konzept erfordere vom Psychotherapeuten sowohl in der Einzelals auch in der Gruppentherapie spezielle Kompetenzen. Prof. Egle: «Da viele Fibromyalgie-Patienten gehört haben, dass es keine Heilung gebe und sie lernen müssten, mit ihren Schmerzen zu leben, sind sie oft überrascht, wenn sie nach einigen Monaten mithilfe einer psychosomatischen Therapie vollständig schmerzfrei sind – und auch bleiben.»

Von Dr. Samuel Stutz am 26. Oktober 2020 - 09:09 Uhr