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Käufliche Normalität und fundamentale Veränderung

Die Lust auf Luxus in Krisenzeiten

Coronazeit ist Gammelzeit: Der funkelnde Glamour, der normalerweise auf roten Teppichen und Grossanlässen herumschwirrt, langweilt sich in den Gestellen der Boutiquen. Noch wie war Luxusmode so irrelevant wie jetzt – und trotzdem ist sie präsenter denn je.

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NEW YORK, NEW YORK - APRIL 06: People walk by luxury retail stores in Manhattan on April 06, 2021 in New York City. New York Governor Andrew Cuomo and legislative leaders have reached a tentative agreement that would raise taxes on its wealthiest residents to meet budget shortfalls. If passed, the tax would make the state's millionaires pay the highest income rate in the nation. (Photo by Spencer Platt/Getty Images)

In Zeiten der Pandemie ist das Interesse an Luxusmode, äh, Normalität gross.

Getty Images

Der deutsche Philosoph Lambert Wiesing bezeichnet Luxus als «Dadaismus des Besitzens»: Luxus entziehe sich der Logik des Notwendigen und habe etwas Rebellisches. Rechtfertigt allein dieser Erklärungsversuch die langen Schlangen, die sich nach der Wiedereröffnung der Boutiquen in der Zürcher Bahnhofstrasse bildeten? Oder sind die Leute schlichtweg in altbekannte, konsumsüchtige Muster verfallen und haben, nachdem der Druck der Krise etwas nachgelassen hat, sämtliche Erkenntnisse über nachhaltigen Konsum, Sparsamkeit und den Wert der lokalen KMUs über den Haufen geworfen?

«Die Lust am Luxus kehrt erstaunlich schnell zurück, sobald sich die dunklen Wolken lichten und etwas Zuversicht aufkommt», meint Dr. oec. Fabio Duma, Leitung Competence Team Luxury Management an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. «Gewisse Leute haben den Kopf geschüttelt, als sie die Schlangen vor den Boutiquen sahen», schildert er. Verständlich, denn schliesslich haben einige Menschen aktuell deutlich grössere Probleme, als den neusten Gucci-Gürtel nicht ergattern zu können. Doch viele Kund*innen hätten sich schlichtweg ein Stück Normalität zurückkaufen wollen: «Der Wunsch nach Luxus basiert auch auf dem Wunsch, dem Alltag zu entfliehen und trotz allem die schönen Dinge des Lebens zu geniessen.»

Shoppers queue outside a a Louis Vuitton luxury goods store, operated by LVMH Moet Hennessy Louis Vuitton SE, in Zurich, Switzerland, on Monday, March 1, 2021. Switzerland has allowed non-essential shops, museums and outdoor sporting facilities to reopen, the first of several steps to unwind social distancing restrictions to contain the pandemic. Photographer: Stefan Wermuth/Bloomberg via Getty Images

Nach der Wiedereröffnung der Läden bildeten sich an der Zürcher Bahnhofstrasse lange Schlangen vor den Shops der Luxusbrands.

Bloomberg via Getty Images

«Revenge Spending» – die Flucht zurück in die Normalität

Der deutsche Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger schrieb vor 25 Jahren: «Vielleicht ist der Luxus ja nie etwas anderes gewesen als ein Fluchtversuch vor der Mühsal und Monotonie des Lebens.» Das würde zumindest die Rekordumsätze der Luxusboutiquen in China erklären, die laut Fabio Duma nach dem harten Lockdown verzeichnet wurden. Dabei handle es sich um das Phänomen des «Revenge Spending»: Die Menschen kaufen sich Luxusartikel als Ausdruck des Wunsches nach Normalität, nach Träumen oder nach etwas Materiellem. «Das vermittelt ein positives Lebensgefühl und Kontinuität», erklärt Duma. 

Zudem haben viele Leute während der Krise Geld gespart, dass sie nun ausgeben wollen. Noch dazu hat die Pandemie den Konsum von immateriellem Luxus – wie Wellness oder eine Reise in eine andere Kultur – beinahe unmöglich gemacht. Entsprechend konzentrieren sich Kund*innen nun wieder vermehrt auf materiellen Luxus, wie eben Modeartikel.

Die Umsätze in der Luxusmode schrumpfen

Die Rekordumsätze in China und die langen Wartezeiten vor den Läden sorgten trotz allem weltweit für Aufsehen. Denn Normalität ist nun einmal nicht käuflich und wird selbst mit der teuersten Tasche nicht so schnell wieder hergestellt. Dennoch ist der Kauf von Luxusartikel wichtiger Bestandteil für die Modeindustrie: «Es ist ja nicht so, dass beim Kauf der Stücke nur die milliardenschweren Besitzer profitieren», erklärt Duma. «Tausende Menschen sind finanziell abhängig von diesen Unternehmen und insofern auch davon, dass die teueren Teile verkauft werden.»

Bis auf die ganz grossen, preisträchtigen Marken hätten laut Fabio Duma gerade in der Branche der Luxusmode viele stark gelitten. Global gesehen seien die Umsätze während der Pandemie um ca. 30 Prozent geschrumpft. Zudem könnte die erzwungene Reduktion des Konsums nachhaltige Veränderungen mit sich bringen: Viele Menschen haben während der Krise eingesehen, dass sie bereits (zu) viel besitzen – und damit steigt die weltweite Sättigungstendenz. «Wenn alles ständig im Überfluss verfügbar ist, dann verliert es irgendwann seinen Reiz.»

Bewusste Reduktion wird Luxus

Es scheint wie ein altes, ungeschriebenes Gesetz: Wo Überfluss an Waren herrscht, ist das «Nicht-haben» plötzlich wieder angesagt. Ist ein Kleiderschrank bis oben gefüllt, kann es befreiend sein, ja fast schon luxuriös, wenn man ihn entleert. Der Trend von «weniger ist mehr», der Hang zum Minimalismus, der Klimawandel und das begeisterte Ausmisten à la Marie Kondo verstärken diese Tendenzen – und fördern den Secondhand-Markt.

Dies bemerkt auch Rea Bill. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin von REAWAKE, einem Schweizer Unternehmen für High-end Secondhand-Artikel: «Durch die Pandemie haben viele Menschen grössere Sensibilität dafür entwickelt, dass wir unser Handeln und unseren Konsum verändern müssen.» Auch ist in den letzten Jahren immer klarer geworden, dass die weltweiten Ressourcen knapp werden und Fast Fashion deswegen zunehmend keine Option mehr ist.

Hinzu kommt, dass Secondhand-Artikel eine gewisse Einzigartigkeit der Käufer*innen in den Vordergrund rücken. «Der Reiz unseres Markets liegt in der Individualität und Schatzsuche», sagt Rea Bill. «Mehr als 95 Prozent der Stücke, die wir anbieten, sind gar nicht mehr First-Hand erhältlich.» Dies sei darauf zurückzuführen, dass die Teile aus alten Kollektionen stammen, aber auch, dass besonders begehrte Stücke schnell ausverkauft seien.

REAWAKE Chanel 19 Bag

Die Tasche «Chanel 19» ist stets ein begehrtes Stück – und verschafft dem/der Besitzer*in Individualität.

zVg REAWAKE

Der Druck nach nachhaltiger Kreislaufwirtschaft wächst

Die Fundstücke in Secondhand-Shops sind also genauso wichtige – wenn nicht gar grössere (und noch dazu günstigere) – Statussymbole, wie neue Teile frisch ab dem Ladengestell. Könnte der Secondhand-Markt also für die grossen Luxusbrands gefährlich werden? «Nein, aber es ist ein Anstoss zum Umdenken», findet Fabio Duma. «Kreative Geschäftsmodelle und Kreislaufwirtschaft sind gefragt, die der veränderten Nachfrage der Konsument*innen entsprechen und ökologische Aspekte stärker berücksichtigen.» Viele Brands versuchen deshalb, das Secondhand-Konzept in ihre Geschäftsmodelle zu integrieren. So beispielsweise auch die Marke Nike, die nun mit dem «Nike Refurbished»-Programm gebrauchte Sneaker wieder tragbar macht und in gewissen Stores wieder zum Verkauf ausstellt.

NIKE REFURBISHED Recycling Sneakers

Auch Nike springt nun auf die neuen Bedürfnisse der Kund*innen an.

nike.com

Die Chancen auf fundamentale Veränderung steigen

«Grundsätzlich müssen sich die Hersteller langsam aber sicher davon lösen, ihren Erfolg über Volumenwachstum zu definieren», meint Fabio Duma. Die Idee des unbegrenzten Wachstums, ist längst veraltet. Das bewusste Einkaufen wurde während der Krise bestärkt – «und das ist ja auch gut so», findet Duma. «Ich sage immer: spend more, buy less. Kaufe weniger, aber bezahle mehr für Qualität, Nachhaltigkeit und faire sowie lokal produzierte Produkte.»

Ob sich dieses sensibilisierte Konsumverhalten auch nach der Krise so rasant weiterentwickeln wird, steht offen. Die Lust nach einem luxuriösen Shopping-Erlebnis, wie man es bei der Wiedereröffnung der Läden gesehen hat, lässt zweifeln. Auch Fabio Duma meint: «Schon nach der Finanzkrise 2009 hat man gedacht, dass jetzt die fundamentale Veränderung im Konsumverhalten der Gesellschaft anstehe.» Und obwohl sich seither einiges verändert hat, und die Situation heute eine andere ist, sind wir bei Weitem nicht da, wo wir – in Bezug auf nachhaltige Produktion und kritischen Konsum – sein sollten. Bis Menschen also ihren Status nicht am materiellen Überfluss messen, braucht es wohl noch etwas Zeit. «Aber es ist zu hoffen, dass sich der Trend zum bewussten Konsum auch nach der Krise fortsetzt.» 

Wie steht es um euren Luxuskonsum in Zeiten der Pandemie? Erzählt es uns in den Kommentaren.

Von Lara Zehnder am 16. April 2021 - 12:09 Uhr